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29 Sep 2015, 12:00 pm
Nach der Entscheidung des EuGH zählt zur „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeit-RL) auch die Zeit, in der der Arbeitnehmer den Weg von seinem Wohnort zum Standort des ersten Kunden und vom Standort des letzten Kunden zum Wohnort zurücklegt. Das gilt immer dann, wenn der Arbeitnehmer keinen festen Arbeitsort hat.Im vorliegenden Fall beschäftigte das spanische Unternehmen Tyco Techniker, die Sicherheitsvorrichtungen in Häusern installieren. Die Techniker hatten ein Firmenfahrzeug, um von ihrem Wohnort zu den verschiedenen Arbeitsorten und am Ende des Tages zurück nach Hause zu fahren. Diese Entfernungen betragen täglich bis zu 100 Kilometer. Ursprünglich bestehende Regionalbüros löste das Unternehmen auf, sodass die Arbeitnehmer keinen festen Arbeitsort mehr hatten.Der EuGH sieht dabei die Fahrt auch zum ersten Kunden als notwendig an, damit der Arbeitnehmer seine technische Leistung vor Ort erbringen kann. Der Arbeitnehmer müsse den Anweisungen des Arbeitgebers auch hinsichtlich dieser Fahrt Folge leisten. Er könne über die Wegezeit nicht frei bestimmen und seinen eigenen Interessen nachgehen. Vielmehr stünde er dem Arbeitgeber zur Verfügung und könne jederzeit Tätigkeiten für ihn ausüben. Der Arbeitnehmer sei hinsichtlich der Uhrzeiten der Kundentermine sowie deren Reihenfolge an die Vorgabe des Arbeitgebers gebunden.In seiner Begründung stellt der EuGH insbesondere auf das Ziel der Arbeitszeit-RL ab. Sicherheit, Arbeitshygiene und der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sollen danach gewährleistet werden. Dieses Ziel würde gefährdet, wenn nur die Zeit der Installation und Wartung der Sicherheitssysteme unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen würde, nicht aber die Fahrten dort hin und zurück. Auch diese Fahrten seien Arbeit, da die Arbeitnehmer gerade keinen festen Arbeitsplatz hätten.
Nicht direkt. Die Arbeitszeit-RL regelt europäische Mindeststandards für die erlaubte Arbeitszeit. Gegenstand der Richtlinie sind nicht wirtschaftliche Überlegungen, sondern primär Aspekte wie Mindestruhezeiten, Ruhepausen und Höchstarbeitszeiten; mit anderen Worten: der Schutz des Arbeitnehmers.Der deutsche Gesetzgeber hat die Arbeitszeit-RL im ArbZG umgesetzt. Deutsche Gerichte müssen das ArbZG so auslegen, dass es mit dem Europarecht in Einklang steht. D. h. das Gericht soll bei der Inhaltskontrolle z. B. eines deutschen Arbeitsvertrages nicht so entscheiden, dass das Urteil im Widerspruch zur europäischen Vorgabe steht.
Nein. Der EuGH hat nicht über die Vergütung der Wegezeit entschieden. Er stellt sogar klar, dass der Arbeitgeber die Vergütung für die Fahrzeit „Wohnort – Kunde“ frei bestimmen kann. Die Arbeitszeit-RL enthält generell keine Vorschriften über die Vergütung der Arbeitszeit. Sie beeinflusst das Ob und Wie der Vergütung von Wegezeiten daher nicht.
Gleiches wie der EuGH. Das BAG unterscheidet wie der EuGH zwischen der Vergütung der Wegezeit und der Arbeitszeit nach dem ArbZG. In ständiger Rechtsprechung gehen die deutschen Richter davon aus, dass die Wegezeit „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG ist. Die Reisetätigkeit gehört bei Außendienstmitarbeitern, Vertretern und sonstigen „Reisenden“ zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten und bildet mit der übrigen Tätigkeit eine Einheit. Sie müssen bei der Fahrt selbst tätig werden und unterliegen dabei dem Direktionsrecht des Arbeitgebers (BAG, Urteil vom 22. April 2009 – 5 AZR 292/08).Arbeits- oder Tarifverträge können jedoch eine gesonderte Vergütung für die Wegezeiten vorsehen. So können z.B. die Arbeitsvertragsparteien bei Umkleide- oder Beifahrerzeiten eine Vergütung vereinbaren, die von derjenigen der „eigentlichen“ Tätigkeit abweicht. Regelt der Arbeitsvertrag/Tarifvertrag die Vergütung der Wegezeiten hingegen nicht ausdrücklich, ist die Zeit mit dem im Übrigen geltenden Stundenlohn zu vergüten (BAG, Urteil vom 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12; BAG, Urteil vom 19. März 2014 – 5 AZR 954/12).All dies darf hingegen nicht mit der Zeit verwechselt werden, die Arbeitnehmer von ihrer Wohnung zu einem festen, gewöhnlichen Arbeitsort benötigen: Diese Zeit ist und bleibt arbeitsschutzrechtlich und vergütungsmäßig bedeutungslos.
Ja – aber nicht in größerem Umfang als bereits zuvor. Arbeitgeber mögen durch das Urteil aufgeschreckt werden. De facto hat sich aber in Deutschland nichts geändert. Hinsichtlich der Vergütung der Wegezeit ist nach wie vor die Regelung der Parteien (im Rahmen des Mindestlohngesetzes) ausschlaggebend.Es ist jedem Arbeitgeber jedoch zu empfehlen, Arbeitsverträge und betriebliche Praxis noch einmal genau zu prüfen, ob durch die oben dargestellte eingestufte Wegezeit als Arbeitszeit erlaubten Höchstarbeitszeiten nach dem ArbZG eingehalten werden.
Ja. Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen die – in Missachtung der deutschen Rechtsprechung – zum Nachteil des Arbeitnehmers von der EuGH-Entscheidung abweichen, sollten endgültig überprüft und ggf. angepasst werden.Wird ein Missbrauch der Wegezeit befürchtet, sollte an entsprechende Kontrollmechanismen gedacht werden. Denkbar sind z. B. Kredit- oder Tankkarten, die nur für dienstliche Fahrten verwendet werden dürfen. Wird dadurch jedoch das Verhalten und die Leistung des Arbeitnehmers (indirekt) überwacht, ist gegebenenfalls ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu beachten (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz).